In der Wohnung von Nico morgens um fuenf eine Krisensitzung, wie ist das weitere Vorgehen? Nico sieht schwarz fuer meinen Abflug um 10:30 Uhr, ein neues Visum und einen gueltigen Pass zu bekommen, dauert seiner Meinung nach mindestens 14 Tage. Und ohne ist die Heimkehr nach Deutschland nicht moeglich. Ich recherchiere im Internet die Adresse des Konsulats in Peking, auf deren Seite findet sich auch eine Anleitung, “Pass weg, Visum weg – was tun?”
Dort steht dann auch das Prozedere beschrieben. Zunaechst den Verlust bei der Polizei melden, sich den Verlust bestaetigen lassen. Zur Botschaft gehen, vorlaeufigen Pass beantragen. Mit dem Pass zum Public Security Bureau (PSB), Division of Aliens and Exit – Entry Administration“ gehen, ein Visum beantragen, warten. Rueckflug buchen, nach Hause fahren. Wie bei Risiko – “Erobern sie Afrika und fuenf beliebige Laender mit 12 Armeen”. Aber wenigstens ein Fahrplan, an den ich mich halten kann. Weniger angenehm ist, dass der Artikel offensichtlich urspruenlich als Broschuere vorlag, mehrfach wird auf die Anfahrskizzen auf der Rueckseite hingewiesen – aergerlich.
Ich habe in der Zwischenzeit noch zweimal mein Gepaeck aus- und wieder eingepackt, um sicherzugehen, dass nicht ich einen Fehler gemacht habe, schliesslich ist noch genug Zeit – doch der Pass ist und bleibt weg. Mir bleibt nichts anderes uebrig, als das Konsulat aufzusuchen. Nicos Fahrer El Ji spricht kein Englisch, ich nur minimalstes Chinesisch, doch gluecklicherweise habe ich von Nico ein Handy bekommen, Chen Mei (eine sehr gute Freundin) bietet sich mir im Verlauf des Tages mehrfach als Dolmetscherin an – und ich habe ja immer bei Nico ein Dach ueber dem Kopf – trotzdem, ein miserables Gefuehl. Telefonisch ist bei der Botschaft noch nichts zu erreichen, Oeffnungszeiten ab 8:30 Uhr, jetzt ist es kurz vor acht, und der Notfalldienst ist der Pfoertner, der zwar Deutscher ist, aber ansonsten auch nicht weiterhelfen kann.
El Ji faehrt mich nach Beijing, nachdem ich ihm mittels Haenden, Fuessen, und Palm-Uebersetzer mein Dilemma erklaert habe. Auf der zweieinhalb-stuendigen Fahrt rufe ich noch einmal bei der Botschaft an, und erreiche tatsaechlich jemanden. Eine Frau nennt mir den Namen des Abteilungsleiters, dessen Durchwahl, und meint, dass ich direkt vorbeikommen soll, auf die Verlustanzeige koenne man verzichten, wenn ich eine eidesstattliche Erklaerung ablege. Das macht wieder ein wenig Hoffnung.
Ich telefoniere mit Chen Mei, die fuer mich am Flughafen in Beijing nachfragt, ob mein Pass dort gefunden wurde – dann haette ich meinen Flug noch bekommen koennen. Die Telefonnummer der Flughafen-Polizei lautet (010) – 64 56 41 19, falls noch mal jemand in eine aehnliche Lage kommen sollte. Fehlanzeige.
Meine Stimmung ist auf dem absoluten Tiefpunkt, als ich zum Konsulatsviertel komme – eine knapp 40 Meter lange Schlange in mehreren Reihen, lauter Chinesen mit gezueckten Paessen, Bittsteller bei irgendeiner Botschaft. Ich bekomme tatsaechlich die sprichwoertlichen weichen Knie. El Ji wechselt ein paar Worte mit den Wachen, die mich daraufhin durchwinken. Knapp hinter mir betritt ein Spanier ebenfalls das Viertel und sagt: “Not having yellow skin is passport enough to enter here” – und das stimmt. Ich bin dankbar und gluecklich, ein Weisser zu sein, zu dem Zeitpunkt geht mir das Wort “Gnade” nicht aus dem Kopf.
Gerade am Abend zuvor hatte ich noch mit Chen Mei gesprochen, die mir von den Pass- und Visa-Regularien fuer Chinesen berichtete. Erstens sind die Dokumente extrem teuer, entscheidender aber ist, wan nein Chinese ein Visum fuer welches Land beantragt. Denn ist der Zeitpunkt falsch gewaehlt, kommt es zu einer Ablehnung des Antrags, die auch im Pass vermerkt wird. Derzeit sind Visa fuer die USA sehr schwierig zu bekommen (vermutlich wegen der Protektionszoelle in den USA, der Weigerung Chinas, den RMB an den Dollar zu koppeln, und oder dem Stahlhandel etc.). Mit einer Ablehnung im Pass ist es fast ausgeschlossen, noch irgendwo anders hinreisen zu koennen. – Aber das nur nebenbei.
Ich betrete die Visa-Abteilung im Hinterhof der Botschaft – neun Schalter, alle ueberfuellt. An der Information erfahre ich jedoch, dass es im Hinterzimmer speziell einen Schalter fuer Deutsche gibt, dort ist niemand – wieder die Gnade. Diesmal spreche ich mit einer anderen Frau mit Berliner oder Brandenburger Dialekt, die mir erklaert, dass es ohne die Verlustanzeige nicht geht. Ausserdem muss ich den Verlust bei der Polizeistation melden, in deren Naehe der Verlust wahrscheinlich geschehen ist – das zweieinhalb Stunden entfernte Tanggu. Ich bleibe aber bei meiner Version, dass ich den Pass vermutlich noch auf dem Flughafen verloren habe, nachdem ich eingereist bin. Deshalb ist die Airport-Polizei jetzt doch wieder zustaendig. Mit der Berlinerin fuelle ich einen Antrag fuer ein Ausreise-Dokument aus, kein richtiger vorlaeufiger Pass, der wuerde zehn Tage dauern, der Antrag kostet umgerechnet 21 Euro.
Jetzt also Passbilder und Verlustanzeige. Um die Ecke finde ich einen kleinen Copyshop, in dem es auch einen Passbild-Service gibt, Eine Frau setzt mich auf einen Hocker, ein Mann nimmt eine weisse Pappe und stellt sich hinter mich, meine Brille wird gegen eine glaslose ausgetauscht, damit keine Reflektionen auf dem Bild zu sehen sind, ausserdem ziehen sie mir eine Jeansjacke an, weil mein Hemd ebenfalls weiss ist… drei Euro fuer drei Bilder, aber es funktioniert.
Weiter zum Flughafen, eine halbe Autostunde entfernt. Inzwischen ist es kurz vor elf – ich habe das erste Mal im Leben einen Flieger verpasst. Die Flughafen-Polizei befindet sich nicht, wie ausgeschildert, im Flughafengebaeude, sondern auf dem Freideck des Parkhauses. Dort sitzen vier gelangweilte Chinesen, die kein Englisch koennen. El Ji kennt meine Situation, ich rufe mittendrin einmal Chen Mei an, stammele meine vier Chinesisch-Brocken und bekomme 20 nach 11 meine Verlustbestaetigung. Die Polizisten machen sich keine Notiz ueber mein Erscheinen, der Schrieb sieht aus, wie ein etwas angehuebschter Notiz-Zettel. Ich mache einen Abstecher zum KLM-Vertretung, betteln, ob es mit dem Umbuchen auf einen anderen Termin noch klappt – Fehlanzeige, ich brauche ein komplett neues Ticket, bei KLM fuer 780 Euro.
Um 12 ist Mittagszeit im Konsulat, bis eins ist dann nichts mehr zu wollen, El Ji beeilt sich, aber ich stehe dennoch um 11.56 Uhr vor verschlossenen Tueren. An der Hauptpforte erklaert mir ein chinesischer Pfoertner in gutem Englisch, dass vor halb drei niemand zu sprechen sei. Ich bin hartnaeckig, zeige den von mir notierten Namen des Abteilungsleiters, erklaere, dass eine Mitarbeiterin mir zugesichert hat, sich um eins wieder um mich zu kuemmern. Dass scheint ein wenig Wirkung zu haben, ich soll um eins wieder kommen.
Ich lade El Ji zum Essen ein, am Nachbartisch hoere ich deutsche Stimmen und geselle mich zu fuenf Frauen, denen ich meine Situation schildere. Von eine bekomme ich den Hinweis, einfach einen Zettel “Appointment with Frau Berlin (wg. des Dialekts) at 1”, eine fiktive oder existierende Durchwahl zu schreiben, dort noch eine unleserliche Unterschrift drunterzusetzen – das wirke Wunder. Ich habe unbewusst also fast das Richtige getan. Um eins bin ich wieder an der Pforte, und der Pfoertner winkt mich auch durch – erste Huerde geschafft. In der Botschaft selbst sitzen zwei deutsche Pfoertner, die versuchen, meine Kontakte zu erreichen – vergeblich. Hinter mir kehren die Mitarbeiter der Botschaft von der Mittagspause zurueck und ich hoere den Namen Moerting, Abteilungsleiter der Visa-Stelle. Ich spreche ihn an, und er erklaert sich bereit, mir zu helfen. Um 13:45 habe ich ein Empfehlungsschreiben der Bundesregierung mit der Bitte um zuegige Bearbeitung und ein Ausreisedokument in der Tasche. Ein gutes Gefuehl. Herr Moerting gibt mir auch noch eine Wegbeschreibung zum PSB, nach seiner Aussage ist die Bearbeitungsdauer von Visa-Angelegenheiten Gluecks- und Verhandlungssache, zwischen einem und zehn Tagen ist alles moeglich.
Beim PSB funktioniert alles relativ reibungslos, ich erfinde einen moeglichen Ersatzflug am 3. Mai (bis jetzt habe ich noch keine Ahnung), draenge auf Eile, die Mitarbeiterin spricht gutes Englisch und nach Ruecksprache mit ihrem Chef bekomme ich eine Zusage, morgen das Visum abholen zu koennen.
Jetzt sitze ich wieder in Tanggu und versuche, Fluege zu checken – evtl. wieder eine Hin- und Rueckreise zu buchen, und die Hinreise verfallen zu lassen. Morgen will Nicos Sekretaerin auch noch einmal versuchen, einen guenstigen Flug zu bekommen. Aber wenigstens habe ich ab morgen gueltige Ausreise-Dokumente – mal schauen wie es weiter geht. Uebrigens hatte ich Glueck im Unglueck, ab uebermorgen sind alle Bueros bis zum 7. Mai wegen Feiertagen geschlossen … Riesendank von dieser Stelle noch einmal an Herrn Moerting und sein Team vom Konsulat in Peking.
Inzwischen kann ich auch wieder lachen, Ohrwurm ist seit dem PSB Stings Englishmen in New York: Oh oh, wo shi de gua ren, wo shi little de gua ren in tanggu… (I’m a little German in Tanggu).
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